Am 30. April macht der Tag der gewaltfreien Erziehung darauf aufmerksam, dass Gewalt gegenüber Kindern in Deutschland per Gesetz verboten ist. Häufig sind es Überforderungssituationen, die bis zum Kontrollverlust führen. Wo Eltern hier ansetzen können, weiß Verhaltenstherapeutin Babett Kauschmann von der Kinderklinik in Lauchhammer.
Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen gegenüber Kindern sind in Deutschland gesetzlich untersagt. Dennoch wenden bis zu zehn Prozent aller Eltern schwerwiegende und relativ häufige Körperstrafen bei ihren Kindern an, schätzt die Polizei. Das bedeutet hochgerechnet auf Brandenburg, dass Kinder hierzulande in etwa 22.400 Familien Gewalt erleben. Welche Auswirkungen Gewalt tatsächlich auf die psychosoziale Gesundheit von Kindern hat, hängt von Intensität und Häufigkeit der Gewalterfahrungen, aber auch vom individuellen Erleben ab. Die genaue Definition von Gewalt bleibt vage: Bereits nonverbale Gesten wie eine stark ablehnende Körperhaltung können gewaltig wirken. „Auslöser für Kontrollverlust in der Erziehung sind meist Überforderungssituationen. Das Problem liegt nicht im Verhalten des Kindes, sondern an anderer Stelle“, berichtet Babett Kauschmann, Leiterin der Familienzentrierten Interaktionstherapie (FAZIT) der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Klinikums Niederlausitz. Auf dieser speziellen Station werden Familien mit einem deutschlandweit einzigartigen Angebot verhaltenstherapeutisch unterstützt – auch um vorzubeugen, dass sie im Umgang mit ihren Kindern an Grenzen geraten.
Überforderung kann Eltern an ihre Grenzen bringen
Die Ursache für Überforderungssituationen sieht die IntraActPlus-Therapeutin, Ergotherapeutin, qualifizierte Elternbegleiterin und Elterntrainerin in einer eingeschränkten Selbstregulationsfähigkeit der Eltern, die das Resultat einer gesamtgesellschaftlichen Unruhe und dem Wandel von Familie ist. „Die meisten Menschen befinden sich gedanklich entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Sie hetzen von einer Aufgabe zur nächsten. Das führt besonders in den Übergangssituationen zwischen Arbeit, Spielplatzbesuch oder Abendritual zu Problemen. An diesem Punkt kann jeder ansetzen“, empfiehlt sie, und rät ganz konkret zu einer veränderten Sichtweise auf die eigene Situation: „Wenn es sich nicht verhindern lässt, dass ich mein Kind später als geplant aus dem Kindergarten abhole, mache ich das Beste daraus, indem ich mich auf den verbleibenden Nachmittag freue. Wer sich ständig bewusst macht, wie gehetzt er ist, wird auch immer gehetzter. Mehr Bewusstsein für den Augenblick hilft“.
Entlastung durch Erfahrungsaustausch
Zudem sind immer mehr Eltern auf sich allein gestellt. Dass Kinder in Mehrgenerationenhäusern aufwachsen, ist mittlerweile die Ausnahme. Der Erfahrungsaustausch und die Entlastung durch die Gemeinschaft bleiben dann auf der Strecke: „Bei Problemen in der Familie hilft es, sich zu öffnen. Wenn man feststellt, dass andere die gleichen Sorgen haben, kann ich meine eigenen Baustellen besser annehmen. Auch bei der Aufgabenverteilung sollte man den Rückhalt aus der Familie nicht unterschätzen“, so Babett Kauschmann. Als eher verunsichernd anstatt hilfreich empfindet sie die Ratgeberflut in Bücherläden und dem Internet, die ihrer Ansicht nach mehr verwirrt als weiterhilft. „Manchmal muss man auch einfach auf das eigene Bauchgefühl hören“, appelliert die Therapeutin.
Achtsamer Umgang miteinander ist erlernbar
In der Kinderklinik in Lauchhammer steht entsprechend des ganzheitlichen Ansatzes des Klinikums Niederlausitz im Sinne einer persönlichen Medizin nicht nur die körperliche, sondern auch die seelische Gesundheit von Kindern im Fokus. Zur Therapie von diagnostizierten Verhaltensauffälligkeiten kommt auf der FAZIT-Station der Kinderklinik das videogestützte IntraActPlus®-Konzept nach Jansen und Streit zum Einsatz. Um sich das eigene Verhalten gegenüber anderen bewusst zu machen, filmen die Therapeuten von FAZIT die Bezugspersonen im Umgang mit ihren Kindern. Den Eltern bietet sich so der ungewohnte Blick von außen auf sich selbst. Dieser verhaltenstherapeutische Ansatz ermöglicht die bessere Wahrnehmung von problematischen Verhaltensweisen, deren Überdenken und Veränderung durch Üben: Eltern werden so selbst zu Therapeuten. „Wir erleben täglich, dass sich Entschleunigung, die Reduktion von Medienkonsum und von Unterhaltungsangeboten harmonisierend auf die Eltern-Kind-Beziehung auswirken. Unsere Station ist liebevoll und farbenfroh gestaltet, aber es gibt wenig Ablenkung. Jede Beschäftigung erfordert es, kreativ zu sein und sich auf den anderen einzulassen. Die Erfolge, die wir damit erzielen, sind immens“, so Babett Kauschmann.
Im Notfall den Raum verlassen und bis 100 zählen
Rund 200 Familien werden pro Jahr in FAZIT betreut. Zu wenige, findet Babett Kauschmann: „Wir haben eine lange Warteliste und würden uns wünschen, dass auch andere Einrichtungen Familien so intensiv verhaltenstherapeutisch begleiten, wie wir das tun“. Wenn im ganz normalen Familienalltag die Luft immer dicker wird, empfiehlt sie folgendes: „Sollte die Stimmung situativ überkochen, hilft es den Raum zu verlassen bis 100 zu zählen, nachdem das Kind gesichert wurde. Nicht das Kind ist die Ursache für einen Kontrollverlust, der bis zur Gewalt führen kann, sondern die eigene Überreizungssituation. Und daran kann man etwas ändern!“
red/Pressinfo
Bild: Klinikum Niederlausitz / Steffen Rasche