… fährt einer barhäuptig, ohne Handschuhe, quer durch die Stadt.
Schlittschuhe baumeln um seinen Hals.
Die Hände sind rot gefroren. Der Mund dampft. Das Herz pocht.
Mit erhitzten Wangen tritt er eifrig in die Pedalen.
Will nicht zu spät zum Rendezvous kommen.
Die Frische, die Unbefangenheit. Sorgenfrei, in eigenen Gewässern.
Mein Gott, so war ich auch mal.
Bin auf dem Weg ins Altersheim. “Literaturabend”.
Martha M., die Leiterin, hatte mich darum gebeten.
“Kannst dir nicht vorstellen, wie viel bei uns noch gelesen wird. Reiseberichte, Liebesromane und Biografien sind die Renner.
Aber nur in der Schmöckerecke hocken, bringt auch nichts.
Die müssen miteinander reden, sich austauschen … denk dir was aus.
Kann ruhig was Anspruchsvolles, mit Tiefe, sein”.
Der kleine “Lesesaal” ist voll.
Als Fotograf könnte ich eindrucksvolle Porträts “sammeln”.
Leben ist in Gesichter gegraben, wie mit dem Schnitzmesser.
Heiteres strahlt mich an, aber auch Verbitterung, Gleichgültigkeit ,Trauer ist auszumachen.
“Ich möchte Sie einladen zu einer Reise” beginne ich meinen Vortrag über Rilke.
“…. ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbei gesendet, ein kleines kaum begonnenes Profil –
Und manchmal ein Lächeln, hergewendet, ein seliges, das blendet und verschwendet an dieses atemlose Spiel …”
“Das haben sie sehr schön gemacht”, lobt eine ältere Dame, als ich meine Sachen packe.
“Kommen Sie wieder?”
“Wenn es meine Zeit zulässt, gern”, sage ich.
“Das war Frau Merlin,” raunt mir Martha zu … “ihr Enkel hat all ihre Ersparnisse im “Joker Play’s” durchgebracht.
Insgesamt 16.400 Euro.
Sie hatte ihm ihr Sparbuch anvertraut, falls mal was passiert; ahnte nicht, dass der Bengel spielsüchtig ist.”
… einer fährt barhäuptig mit einem klapprigen Rad durch die Stadt.
Es hat geschneit.
Mit erhitzten Wangen tritt er in die Pedalen.
Schlittschuhe baumeln um seinen Hals.
Wer verliebt ist, spürt Kälte nicht.
Ich denke an meinen nächsten Vortrag im Altersheim.
Frau Merlin hat sich Hölderlin gewünscht, passt zur Jahreszeit.
“…Die Mauern stehn sprachlos und kalt …”
“Is’ nicht so,” meint Martha: sie hat ihrem Enkel vergeben.
“Der Bub hätte doch sowieso alles geerbt,” sagt sie.
“… Das Leben …” ein atemloses, blindes Spiel …”
Flocken fallen.
Schnee deckt die Reifenspuren zu.
Wann habe ich eigentlich mein letztes Rendezvous gehabt?
Bin ich da auch mit dem Fahrrad hingefahren, mitten im Winter?