Sandra Jakolew, Verkehrsfliegerin bei “BB”, hat gerade einen Unfall gemeldet: ein LKW ist kurz vor Müllrose, in die Leitplanken gerutscht und blockiert nun die Fahrbahn in Richtung Frankfurt / Oder.
Wahrscheinlich eingepennt, denke ich – mein Nachbar, Busfahrer bei einem Reisebüro, erzählte, letzten Monat haben drei seiner Kollegen schwere Unfälle verursacht, weil die Fristen zwischen den Fahrten immer kürzer werden. Das Geschäft boomt. Die Leute zieht es in die Ferne: vom Nordmeer bis nach Singapur und Bali.
Die gesparten Euros werden in Erinnerungen umgetauscht, bevor die Inflation alles wegfrisst.
Wir haben die großen Treckingtouren in diesem Jahr schon hinter uns, genießen Altweibersommer und nahenden Herbst daheim.
Die Linden vor dem Haus verlieren ihre Blätter, segeln braun und ermattet zu Boden, Auto- Fahrradreifen zermahlen sie zu feinem Staub.
Auf dem Hof verbeulen Eicheln das Autodach vom alten Martens: … plopp, plopp, wie Sektkorken.
Wenn die Eicheln nachts auf’s Blech knallen, hört es sich an wie Schüsse. Martens ist schwerhörig, kriegt das nicht mit, seine Frau denkt, es ist der Fernseher von den Nachbarn.
“Ich glaub’ die gucken immer nur Western”, meint sie kopfschüttelnd zu mir.
“Die Spinner haben sogar Koi’s im Garten”, sage ich …schweineteure Koi’s, gibt’s im Fressnapf von 5 bis 300 Euro.
Am wertvollsten sind die mit einem roten Fleck auf der Stirn. Wolfgang Handt hatte mal so einen, als ihm seine Mutter eine mit der Bratpfanne übergezogen hat, weil er sich tapfer zwölf frisch gebratene Bouletten allein hintergehauen hat.
Den anderen, auch seinem Opa, der gerade zu Besuch war, blieben nur Kartoffeln und Blumenkohl übrig – trübe Stimmung am Tisch, kann man sich vorstellen.
Neben dem Brandfleck auf der Stirn bekam Wolfgang dann nächsten Tag noch fürchterliches Wanstrammeln und schrie rum, wie in der Oper: … ” wäär ich doch schon tot “!
Kurz danach hatten wir Deutsch.
Schulheft:
“Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm ich, wenn es Winter ist,
die Blumen, und wo den Sonnenschein Und Schatten der Erde?…”
Die Sonne flimmert schräg durchs Klassenfenster im dritten Stock. Stille. Erpel liest im “Lügen Rudi”. Karla Pankows Zopf ist ordentlich geflochten. Sabine Muschik kaut an ihrem Füller. Frank – Peter Wilk fehlt, muss seinem Vater beim Garagenbau helfen. Burkhard Roepke grübelt über einem Gedicht von Bob Dylan – eigentlich sollen wir einen Aufsatz über Hölderlin schreiben:
…irrte durch Südfrankreich und kehrte wirren Sinnes 1802 in die Heimat zurück.
Mit 32 Jahren war sein Geist umnachtet und blieb es – mit einigen Unterbrechungen – bis zum Tode am 7. Juni 1843.
Ein ehrbarer Schreinermeister in Tübingen hat das äußere Leben des großen Genius fast 40 Jahre lang treu behütet.
“Sehr gut” , lobt mich Lehrer Erpel. “Und, Wolfgang, was hast du rausgefunden” ?
” Hölderlin war Vegetarier, schüchtern, scheu gegenüber Frauen”, druckst mein Nachbar rum ….. “, hat zeitlebens nicht viele Gedichtbände veröffentlicht ” …” ach, so “? Erpel staunt, “was denkste denn, wieviel “?
Wolle schaute mich Hilfesuchend an … ich flüstere: “wieviel Bouletten isst du im Jahr ” ?
…. “knapp 600 “, … Erpel nickt ,” guck an, guck an! sehr gut !
nun noch flugs ein Werk des Meisters oder eine Rezitation, meine Herren”.
“Hyperion” nuschle ich, der Dicke glotzt treudoof – die Schallwellen kommen nicht an …. “Hyper …Hyper . ..” wie das kaputte Grammophon von Oma Lieske – wahrscheinlich ist sein Ohr durch den Hieb mit der Bratpfanne zu …. “wie bitte”? Stirnrunzeln beim Pauker “Hyperbong” haut er endlich raus, einige Mädchen lachen …ich stemme mich hoch, wende mein Gesicht zum Fenster, vom Profil wirke ich schärfer -” ruhig, ihr Gänse”!
…”die Mauern stehn sprachlos und kalt” ,deklamiere ich … “im Winde klirren die Fahnen” .
“Wie auf dem Schulhof ” sagt Wolle und schaut mich bewundernd an: “hast was gut bei mir “, meint er, – der rote Fleck auf der Stirn leuchtet …. macht ihn wertvoll!
Wolfgang und ich haben an dem Tag einen großen Topf Gulaschsuppe leer gegessen, zur Verfeinerung mit einem Esslöffel Butter drin und eine grob gehackte Zwiebel … “das mit Hölderlin”, sagt der Dicke und leckt seinen Teller ab…
…”was für’n Hölderlin”? frage ich …. “komm, hol dein Luftgewehr! wir gehen Krähen schießen – die Viecher sind ‘ne richtige Plage …”