Liebe Sophie,
…wie du dir vorstellen kannst, geht es mir gut: der erste Teil des Urlaubs war voller Erlebnisse und verflog wie ein Traum – an Orten, wo es uns besonders gut gefiel, haben wir für den Oktober noch ein paar Tage gebucht und gleich nächstes Jahr Pfingsten.
Es gelang mir auch etwas zu schreiben: ein paar Skizzen, flüchtige Eindrücke, gut für die eine oder andere Kurzgeschichte – manchem mag es Freude bereiten; den Gedanken, die Figur, wiederzuerkennen, das ansonsten Verborgene flüchtig zu sichten: Strittmatter, zum Beispiel, war ja ein Meister, das Alltägliche “zu benennen”.
Alles lässt sich beschreiben, bzw. zu filmen; Bilder entstehen ja auch im Kopf: lange habe ich das nicht geglaubt, bis ich “das Parfüm” sah: die erste Szene mit der Geburt auf dem Fischmarkt und Gerüche wahrnahm, die mein Unterbewusstsein wahrscheinlich aus der Bretagne rübergeschmuggelt hat.
…wir brauchen mehr Gelassenheit gegenüber einer überdrehten Welt, Hobbes rät: meditieren Sie – mache ich Sophie, indem ich schreibe …ha, ha! immer wenn ich versuche, mit gekreuzten Knien zu “sitzen” und mich fortzudenken, tun mir so die Gelenke weh, dass der Schmerz jedes Glücksgefühl einkassiert, wie ein Schaffner die Fahrkarten …O.K., muss auch so gehen ….
ich würde gern ein paar Gedanken von dir in nächste Schreiben aufnehmen, natürlich verfremdet; aber es sind immer wieder kleine “Episoden”, die mich anregen, zum Beispiel das Thema “Mobbing”, das geht mir nicht aus dem Kopf: eine gute Bekannte ist da reingeschlittert, mit einem Mal sah sie sich Gewalttätigem gegenüber, lange aufgestautem Hass, trügerischen Maskeraden, angesiedelt zwischen Wiener Hoftheater und einstürzenden Neubauten.
Das bringt mich wieder nach Moskau: weißt du noch, als wir Margarita in der Arabat-Gasse besuchten, die uns dort in eine Gemeinschaftswohnung ließ ….neugierig schauten wir in die Küche hinein. Zwei Primuskocher summten auf der Herdplatte, davor standen zwei Frauen mit Löffeln in der Hand und beschimpften sich.
“Man macht das Licht aus, wenn man die Toilette verlässt, das sage ich Ihnen, Pelageja Petrowna” sagte die eine, die in dem dampfenden Kochkessel rührte, “sonst müssen wir sie auf Räumung verklagen”.
“Sie sind auch nicht besser”, antwortete die andere. Nach einer Weile gingen die Zankweiber mit ihren schmutzigen Löffeln aufeinander los, bis Nikita Pawlowitsch, der Hausmeister, reinstürmte und beiden ein vierwöchiges Kochverbot aussprach. Kurze Zeit darauf fand der Limonadenverkäufer Stefan Bogomilowitsch die Petrowna ermordet im Puschkinpark; jemand hatte ihr – wohl mit einem stumpfen Gegenstand – die Augen entfernt….
Mich nimmt das noch immer mit: zum Glück fahren wir morgen in die Alpen, du merkst, ich komme zum Ende – freue dich auf eine schöne Urlaubskarte, in aller Freundschaft, ach ja, grüße Erna von mir ……. deine Rosa.
PS: übrigens hat mich auf dem Markt von O. ein Maler porträtiert, lass dich überraschen!