Oma Trudchen ist 75 geworden. Immer noch gerade im Kreuz und frisch im Gesicht meistert sie ihr Leben, dass ärmer geworden ist nach dem Tod des Großvaters. Respekt, wie sie sich wieder gefangen hat, nach dem plötzlichen Abschied, weiß nicht ob ich das könnte.
Ich kaufe ihre Lieblingsblumen – weiß-blau-dunkelrot gefärbte Fresien – und gehe hin zum gratulieren.
Wie die meisten alten Leute erzählt Oma gern von früher, von ihrer Zeit als Schaffnerin bei der deutschen Reichsbahn.
Ich ess selbst gebackenen Apfelstrudel und hör zu …
Trudchens Strecke war Cottbus – Berlin – Rostock, bevorzugt D-Zug oder die Bummelstrecken von Cottbus – Weißwasser – Görlitz, mit der Dampflok.
Ich seh die kleine resolute Frau, mit den Grübchen in der rechten Wange.
Kurz vor Dienstbeginn: ein Schlückchen Kaffee aus der Thermoskanne, Mütze zurechtgerückt, Eisenbahnerjacke auf richtigen Sitz überprüft, Tür aufgeschoben und schon ging’s los, von der Lok weg, nach hinten zum letzten Wagon.
Derbe Schuhe, schwarze Männerhose, markante Stimme: die Fahrkarten biiiitte! wer bei dem Ruf zusammenzuckte oder sich plötzlich auf’s Klo verkrümeln wollte, hatte keine, wollte sich durchmogeln ..
“kannste glauben, die hatten Respekt vor mir, gab auch kein Pardon, wer keine Fahrkarten hatte und nicht den Aufschlag nachlösen wollte, flog an der nächsten Station raus: ratz, batz ging das” – Omas Augen leuchteten, als sie sich selbst als Schrecken aller Schwarzfahrer beschrieb.
Wenn’s mal wirklich Ärger gab, blies Trudchen mit vollen Backen in die Trillerpfeife, das half: oder sie holte die Trapo zur Hilfe – die Jungs fackelten nicht lange …
Ihren Personal-Ausweis bitte! “was war’n das da gerade im Zug? …wie, nischt passiert ? denken Sie die Schaffnerin holt uns ohne Grund. Bruno, schreib mal auf: Name, Anschrift vom Betrieb ..
so, so Fahrkarte zu Hause vergessen
kommt das öfter vor? werden mal beim ABV nachfragen, vielleicht haben S’e ja noch mehr auf’m Kerbholz .. brauch’ man sich ja bloß die Tätowierungen anzusehen? .. was heißt hier, friedlicher Bürger .. wir tun auch nur unsere Pflicht .. wer fährt denn hier schwarz? jetzt reichts aber .. mitkommen …..!
Willste noch ein Stück Kuchen, Jung’chen? Nein danke, Oma, ich muss jetzt wirklich gehen.
Omas Lächeln erlosch, auf ihrem Gesicht lag jener Ausdruck von Sorge und Hilflosigkeit, den sie immer hatte, wenn ich mich von ihr verabschiedete.
Sie tat mir Leid … ich komme bald wieder, Oma .
Ich schaue hoch und winke zum Abschied …
Die Szene bleibt in meinem Gedächtnis haften; ein lauer Nachmittag, die Stare lärmen im Kirschbaum, Sommerferien, ich hab Murmeln in der Tasche, einen zerstruppelten Haarschnitt und schwelge in sündigen Gedanken.
Oma ist kurz darauf verstorben … kleine tapfere Frau … wo musste ich bloß an ihrem Geburtstag hin?
Fällt mir nicht mehr ein: war bestimmt völlig unwichtig, aber wer weiß das schon in dem Moment ….