Etwa 5 Km vor Schlepzig,ungefähr um 12 Uhr überfiel mich der Hunger. Zum Glück, die ‘Waldkneipe’ kam in Sicht.
„Heringsstippe nach Art des Hauses“ stand in weißen Buchstaben auf dem verblichenen Rest einer Schultafel, die neben der Eingangstür lehnte .. Auf einem anderen marketingpreisverdächtigen Schild hieß es:”Eisbecher mit frischen Erdbeeren, auf Wunsch mit Eierlikör und selbst gebackener Kirschkuchen”. Das saß.
Wir schoben die Räder in den Ständer und platzierten uns auf einer der Holzbänke so, dass wir unsere Drahtesel im Blick hatten. Notfalls konnte ich bei Gefahr im Verzug über den Tisch hechten … man weiß ja, was hier los ist: Fahrradklauen ist ein beliebter Volkssport geworden, nach Öffnung der Grenze.
Die Kellnerin trug einen landestypischen Hut bei der Arbeit und stand sofort am Tisch, um die Bestellung zu notieren: natürlich Stippe und Eisbecher mit frischen Erdbeeren.
Ehe der Bauer dreimal um den Trecker geht, stand schon der Hering auf dem Tisch, auf dem Teller dampften fröhlich artoffeln, mit Petersilie bestäubt, dazu.
Wie ein Akrobat balanciere ich das erste Stück Fisch auf die Gabel, schnuppere dran, schiebe es genießerisch in den Mund – und werde gleich darauf von einem Hustenanfall geschüttelt.
Diese Gauner: haben doch einfach sauer eingelegten Hering aus dem
Glas (Kaufhalle, 1,45 Euro) genommen, in Stücke geschnitten, billig Remuolade rübergekippt, bischen Kohl und Möhre geraspelt und, bitte schön – der Spezialitätenteller ist fertig, für 7,80. Ich hab’s gewusst! Zur gleichen Zeit sucht A. in der Eisschale (5,20) nach Eierlikör und guckt mich fragend an.
Ich zeige auf den Wirt, der schnauzbärtig um die Tische schleicht: sieht aus wie Sarrazin, nur dass, wenn man ganz genau hinschaut, dieser hier etwas schielte.
Vielleicht geht der Sarrazin jetzt heimlich kellnern, um dem Volke nah’ zu sein, sage ich … hatte gelesen, dass er kürzlich zu einem Interview Reporter der ‘BZ’ in seiner Wohnung empfangen hat.
Der erste Satz ihrer Home-Story lautete: Tilo Sarrazin empfing uns höflich und sehr gastfreundlich – was assoziierte, dass der Ex-Finanzsenator sonst mit Gullideckeln Schaufensterscheiben einschlägt oder Prügeleien daheim oder in der Kneipe anfängt.
Wahrscheinlich herrscht in allen Gesellschaftsordnungen das gleiche Prinzip: wer Wahres mit Ross und Reiter nennt, Unbequemes ausspricht oder gegen den Strom schwimmt, wird angefeindet, verleumdet, unglaubwürdig hingestellt; bewiesene Fakten sind auf einmal Thesen.
Gut, ein entscheidenen Unterschied gibt’s: wer früher im Osten an die Wand gepinselt hätte: Honecker ist doof, wäre nach Bautzen gewandert. Heute kann jeder schreiben, was er will – halt Meinungsfreiheit.
Ich hoffe nur, dass unser ‘Wald’ und ‘Wiesen’ Wirt nicht auf die Idee verfällt, ein Kochbuch herauszubringen, so mit Empfehlung des Hauses: ‘Heringsstippe’ und nachfolgend als Dessert angepriesen: ‘frischer Erdbeereisbecher mit ohne Eierliköhr’.
… dann ist’s ’89’ Freunde, gehe ich auf die Barrikaden; das Volk lässt sich nicht verarschen!
Danke für die Gastfreundschaft Herr Sarrazin, rufe ich zum Abschied.
A. trauert noch immer dem nicht real existierten Likör hinterher.
Was soll’s! … es ist Sonntag, die Räder sind noch da, Vöglein singen, Bienen summen – bis Schlepzig ist es nicht mehr weit …