Als ich meinen Schwiegervater verlor, wurde mir bewusst, wie wenig ich bisher über das Sterben nachgedacht hatte.
Was es heißt, dass jemand mit dem man reden, lachen, streiten konnte, der oft schwierig und eigenwillig war, plötzlich nie wieder zur Tür hereinkommt.
Der Tod, wir verdrängen es, weilt immer unter uns:
ein erbarmungsloser, unbeirrbarer Schnitter, der dafür sorgt, dass die Welt in Bewegung bleibt.
Wir sind die Spreu nach dem Drusch, leicht vom Wind verwehbar, austauschbar, vergänglich.
Manch einer versucht mit Tricks sein Leben zu verlängern und ganz Ausgebuffte, schaffen das sogar eine Weile. Sie handeln einen unseligen Pakt mit dem Sensenmann aus.
Ein brüchiges Stück Pergament, mit bitterem Siegel und einem Ende weitab von Gottes Acker.
Hartmut Pfüller wurde auf dem Friedhof in Cochstedt beigesetzt.
Der Dichter Johannes R. Becher sagte : jeder Mensch hat eine Geschichte und sie ist es wert aufgeschrieben zu werden.
Ich versuche es :
Hartmut Pfüller stammte aus ländlicher Gegend. Er lernte und arbeitete in mehreren Berufen, darunter Rangierer, Lokführer und Bergmann. Seine Hobbys waren der Umgebung angepasst, richteten sich aber auch in die Ferne. So hielt er sich Hühnern, ab und zu ein Schwein sowie Hasen und Kaninchen. Untergebracht waren die Tiere in einem kleinen Stall, gleich hinter dem Haus- mitten im Garten, der die Sechs-köpfige Familie mit Kartoffeln, Zwiebeln, Möhren , Rüben und Küchenkräuter versorgte.
Der Garten diente aber auch wissenschaftlichen Zwecken: wenn Hartmut gut drauf war und das Wetter mitspielte, holte er am Abend ein aus Magdeburg geliefertes Teleskop heraus und holte sich die Sterne heran.
Die blinkenden Himmelswächter hatten es ihm angetan. Mühelos benannte er unzählige Sternzeichen und erzählte Geschichten über sie.
Ob die erfunden waren oder angelesen, blieb sein Geheimnis.
Seine zweite Obsession war das Tanzen. Wer auf dem Dorf Hüftschwung, Drehung und Schritte im Taktgefühl gut setzen kann, ist angesehen beim weiblichen Teil der Gemeinde.
Wer dazu noch passabel aussieht – und Hartmut war ein fescher Bursche, ein „ Schöner“ wie man in Cochstedt sagte, der blieb bei der „Damenwahl“ nicht lange sitzen.
Getanzt wurde im einzigen Saal des Dorfes, im „ Volkshaus“. Die Bands kamen aus der Gegend und intonierten in lässiger Manier alte und neue Hits , vom Schunkellied bis zum Rock&Roll.
Manchmal kam ein Gast von außerhalb, setzte sich still in die Ecke und beobachtete das fidele Treiben. Der Fremde war diesmal in dezentes Grau gekleidet und besaß so viel abweisende Aura , dass ihn niemand ansprach.
Wenn er kurz vor Mitternacht ging, atmeten alle auf und sprachen umso heftiger Wein, Bier und Schnaps zu. Das war üblich so und jede Generation übernahm es immer wieder aufs Neue. In dieser Nacht verstarb übrigens eine ältere Frau im Dorf, gleichzeitig wurden zwei Kinder geboren
Cochstedt hatte eine Besonderheit : der Ort roch nach frischen Kräutern; Rosmarien, Bohnenkraut, Lavendel, Thymian, Pfefferminze , Kamille und anderen Essenzen.
Die Gerüche kamen aus der Kräutermühle, einem Betrieb, im Zentrum des Ortes. In dem Hunderte Tonnen der begehrten Kräuter verarbeitet wurden und dann als Tee, Suppenbeilage oder Heilmittel die Reise in die ganze Welt antraten.
Zum Glück wurde der Betrieb nach der Wende weitergeführt, Tee und Kräuter werden immer gebraucht.
Zu der Zeit besorgte sich Hartmut ein rot gespritztes Mofa und tuckelte die Dorfstraße zum Konsum lang oder über Wiesen und Felder, um Grünzeug für seine Tiere zu holen.
Das Leben gab nun eben einen anderen Takt vor, mit anderen Mühen und Pflichten. „Volkshaus“, Schwimmbad, Schule sind geschlossen, in dem kleinen Ort. Die Jungen ziehen weg und die Alten sterben weg.
An seinem letzten Tag saß Hartmut in der Küche und sagte zu seiner Frau: Trudchen, heute stehen drei in der Zeitung, die ich gekannt habe: den einen vom Fußball, den von der Arbeit und mit dem bin ich zur Schule gegangen. Überlege mal, Trudchen, drei Bekannte, alle in meinem Alter.
Einige Stunden später ist Hartmut friedlich zu Hause eingeschlafen. Er war ein beliebter Mann in Cochstedt, ein guter Ehemann und ein verständnisvoller Vater und Opa .
Ich habe ihn sehr gemocht.
Die Sterne funkeln immer noch über Cochstedt. Vielleicht hat Hartmut ja nur die Perspektive geändert, der Schalk. Zuzutrauen wäre es ihm.
Leider, mein Guter, können wir dir nicht dein rotes Mofa hinterherschicken,
du würdest zu viel Krach machen da oben, im Himmelsreich und vielleicht die Engel von ihrem Tagwerk abhalten.
Machs gut , alter Jungen , wir werden dich nie vergessen .