… du musst dir unbedingt den Film “Letztes Jahr in Marienbad” aus der Videothek holen.
Traum und Wirklichkeiten gleiten da in einer faszinierenden Art ineinander, dass man oft nicht weiß, in welcher Ebene das spielt.
Erzählt wird, wie sich ein Mann und eine Frau im luxeriösen Grand Hotel treffen und sinnieren, ob sie sich schon einmal begegnet sind.
“Der Mann ist überzeugt, dass sie sich ein Jahr zuvor hier verabredet hatten, um zusammen ein neues Leben zu beginnen. In bruchstückhaften Erinnerungen beschwört er ihre gemeinsame Vergangenheit, doch die Frau kann sich an nichts erinnern…”
Mir geht es manchmal genauso: ein vertrauter Schritt in der Menge, ein Blick, ein kurzes Aufblitzen – “He, wir kennen uns doch! Kramen im Gedächtnis, nicken, immer noch ratlos … manchmal kann man ein Gesicht zuordnen.
“Wie ist es dir ergangen? Immer noch in dieser Stadt? Hast du Zeit für einen Kaffee?”
Schicksale, Lebensläufe offenbaren sich. Vertane Möglichkeiten erwogen: was wäre wenn …?
Vorbei – Abfinden mit der Realität.
Auch die Mittelschicht hat heute zu knabbern, erzählt Carla Pankow. Die immer noch attraktive Blondine arbeitet selbstständig als Kardiologin.
“In den letzten fünf Jahren 0,9 % Honorarerhöhung – nicht mal die Inflation hat das ausgeglichen”, berichtet sie…
Dazu der ständige Druck der Kassen zu sparen, während sich von denen die Vorstände gegenseitig Hundertausende zuschießen. Es macht keinen Spass mehr, hab’ schon oft daran gedacht, die Praxis zu schließen. Bin ja als Arzt auch irgendwo Unternehmer, mit Fürsorgepflicht für die Angestellten…Aber nicht mal Rücklagen kann man bilden … Weißt du noch, unser großer Traum damals?
Forscher wollten wir werden, bedrohte Tierarten retten: Berggorillas, Panzernashörner – jetzt kann ich nicht mal meine Patienten richtig versorgen.”
“Bin gleich wieder da, glaube, mein Make up ist verschmiert”, sie geht in Richtung Toilette.
Ich schließe kurz die Augen: … weitläufige Säle, orientalische Teppiche, die Decken sind mit Ornamenten verziert. An den Wänden hängen alte Malereien und Spiegel. Männer in Smokings, Frauen in Abendkleider nippen an Sektgläser, andere gruppieren sich um Spieltische. Es wird getanzt, geflirtet, getratscht, Intrigen gesponnen, Geschäfte per Handschlag besiegelt … Marienbad.
“Carla” will ich sagen: “Komm heute abend zu mir, wir schauen uns einen schönen Film an, trinken einen offenen Bordeaux – so wie früher: gibt noch so viel zu erzählen …. Weißt du, dass Berni Wünsche nach Australien ausgewandert ist, ich jeden früh beim Brötchenholen, Rolf Scheinpflug, unseren Erdkundelehrer treffe und dass Katharina Schmidt zum vierten Mal geheiratet hat …?
Ich warte, dass Carla zurückkommt. Das Geschirr wird abgeräumt.
Die Rechnung ist schon beglichen, sagt der Kellner. Ich bin bestürzt. Traum und Wirklichkeit.
“Marienbad.”
“Die Dame hatte es sehr eilig,” sagt der Kellner. “Hat sie eine Adresse hinterlassen?”
Er lächelt, “Tut mir leid, nein”.