Um 9.30 klingelt es. “Hier ist die Post, ich hab’ zwei Bücher” hallt es durch den Hauslautsprecher.
“Ich komme runter,” rufe ich zurück und drücke auf öffnen.
Die Postfrau streckt mir die Bücher, Briefe und eine Zeitschrift entgegen. Von ihrer Wetterjacke perlen Tropfen, die Strickmütze ist quitschnass …” Sauwetter heute, was ?” sage ich. Die zierliche Frau schüttelt den Kopf: “Ich mach den Job schon seit 20 Jahren, das Wetter ist mir eigentlich egal.”
“Was sind Sie für ein Sternzeichen,” frage ich: “Wassermann” … “ich auch.”
Die Postfrau strahlt: “stimmt das? ” … “Klar! Gehen wir mal zusammmen einen Kaffee trinken” …”warum nicht ,” sie klappt den schweren Fahrradständer hoch, fährt weiter.
Ich seh’ ihr nach. Der Tag fängt gut an. Kleinigkeiten, die sich addieren: ich will mich nicht in 20 Jahren über Dinge ärgern, die ich nicht getan habe.
Einsicht, wie schnell Zeit verrinnt, erreicht uns oft zu spät.
Abgehetzt, mit schweren Koffern stehen wir auf dem Bahnsteig. Der Zug ist abgefahren.
Fern blinken rote Lichter.
In den wilden Zeiten, kurz nach dem Abi, flüsterte mir Fiona rotweinbezecht zu: “komm’ heute Nacht zu mir, lass uns miteinander schlafen.” Gerade frisch verheiratet, lehnte ich ab. Fiona schmollte, verzieh die Zurückweisung nicht, verschenkte sich an einen, der sie nicht verdiente.
Beatrix behauptet: “das Gestern ist nichts als ein Traum, das Morgen ist eine Vision”
Hat sie recht?
Die Wahrsagerin war früher Chefin einer Gartenkneipe “Zum frischer Krug”.
Als sich nach Umbruchzeiten die Besitzverhältnisse änderten, musste sie gehen.
Der neue Eigentümer, ein Gastronom aus Zehlendorf, riß den kupfernen Tresen raus, schleppte eine verchromte Cocktailbar an.
Longdrinks statt Fassbier.
Ging schief, in der proletarischen Wohnsiedlung, mit 30 % Hartz IV – Anteil.
Jetzt steht die Kneipe leer, die Trinker sind fort. Bier gibt’s überall. Die Leute stehen draußen.
Da ist es am billigsten.
Beatrix ließ sich in Reki, Yoga und Karten deuten ausbilden, wurde Seherin.
Ich warte an der Schranke.
Bald kommt der Zug. Keine Ahnung, ob von Ost oder West.
Die Waggons flitzen vorbei. In einem der beleuchteten Abteile sitzt Fiona.
Schwarze Haare, blasses Gesicht. Wie damals.
Ich schaue den roten Rücklichtern nach. Das Zittern der Gleise lässt nach.
Die Schranke geht hoch.
Autos hupen, Leute hasten vorbei.
“Das Gestern ist nichts als ein Traum”.