Beim diesjährigen Stollenfest auf dem Dresdener Striezelmarkt kam ein Mensch unter die Räder.
Dieser Mensch war ich. Rolf Kotte, ein Tourist aus Brandenburg.
Wie tausend andere Schaulustige wollte ich am 8. Dezember miterleben, wie der tonnenschwere Stollen, eine Replik des vom königlichen Bäckermeister Zacharias gebackenen Riesenstollen aus dem Jahre 1730, per Pferdegespann auf den Altmarkt rollt, um dort von kundiger Hand zerschnitten zu werden.
Feinschmecker wissen, das essbare Ungetüm besitzt durch identische Zutaten das gleiche unverwechselbare Aroma, den gleichen Geschmack wie der echte Dresdener Christstollen.
Nachzulesen ist:
Mehr als 80 sächsische Backstuben haben drei Wochen zu tun, um die jeweils 8 Kilogramm schweren Stollenplatten herzustellen.
Mit Butter und Schmalz fügen dann Gesellen die ca. 300 einzelnen Teile zusammen.
Schaufelweise ausgestreuter Puderzucker vervollständigt das Gesamtkunstwerk.
Auf dem Striezelmarkt wird der “größte Kuchen der Welt” in etwa 500 Gramm schwere Portionen zerteilt und im Tausch gegen sogenannte “Stollentaler” an die Festbesucher für 4 Euro pro Portion verkauft.
Der Erlös fließt ins Stadtsäckel – von da an bedürftige Einrichtungen.
Gerade als ich meine 4 Euro für den guten Zweck abzählte, mich auf mein Stollenstück freute und überlegte, wie ich an eine Tasse Kaffee käme, bog der geschmückte Wagen um die Ecke und warf mich zu Boden …
Aus einem Karusselllautsprecher hörte ich noch Helene Fischer singen: “Du gibst dem Leben Glanz …” dachte: “nun nicht mehr” …. vernahm im Fallen, hartes Trappeln von Hufen …. sah aus der Froschperspektive, wohlgenährte, massige Pferde – Kaltblüter – die sicherlich schwer zu lenken waren … Pech gehabt, schoß es mir durch den Kopf, sollte so schön werden der Ausflug nach Dresden …. Oma Trudchen hatte noch gewarnt: passt bloß auf, da ist die Hatz los …
Nun liege ich im St.-Joseph – Stift. Beide Beine in Gips. Über mir ein Spruch an der Wand: “Keime kennen keine Grenzen”. Von der Straße klingt Lärm. Eine Schwester kommt ins Zimmer, lächelt freundlich: “Na, aufgewacht? … wegen Ihnen musste beinahe das Stollenfest abgesagt werden ….”
Sie berichtet: “Die Pferde scheuten, weil sich ein aggressiver Hund losgerissen hat; dazu der ganze Tumult, Lärm, die vielen Blitzlichter … Ihr Glück war, dass ein Ordner Sie blitzschnell unter dem Wagen hervorzog …”
Glück ist relativ, denke ich. Die Schwester stellt einen weihnachtlich geschmückten Teller auf mein Nachttischchen, “Original Stolle”, zwitschert sie. “Danke”, ich lächle gequält. Denk’ positiv wispert eine innere Stimme – immerhin haste 4 Euro gespart.
Draußen auf dem Gang dudelt das Patientenradio. Füße scharren, Krücken klappern, Keuchhusten.
Die noch laufen können versammeln sich zur Schlagerparade.
Ausgerechnet vor meinem Zimmer.
Der Sprecher kündigt die neue Single von Bernhard Brink an: “Gefallene Engel schweben vom Himmel …”.
Woher wusste der Brink, dass ich in Dresden unter die Räder komme?
Ich schiele auf meine Klumpfüße. Links hat einer mit Filzstift “GR” raufgeschmiert. Ich klingle. Die Schwester rauscht heran – ich zeige auf die Buchstaben … ? Sie wird rot: “GR” heißt “GipsRolf” ,…. das waren die frechen Pfleger, machen die bei allen Gipsleuten.
“Erst überfahren, dann verhöhnt”, poltere ich los. “Mmmm” … sie schüttelt den Kopf: “Ich habe Ihnen sogar noch die Füße gewaschen, damit’s unter’m Gips nicht so juckt”.
Mir verschlägt’s die Sprache: “gefallene Engel, gewaschene Füße, St.-Joseph – Sift ” – bin ich vielleicht Jesus?