Mein Name ist Paul. Paul Matzig. Ich bin 82 Jahre und bin imstande noch die Uhr zu “malen”.
Das bedeutet, ich darf im Westflügel wohnen und werde nicht zu den Demenzkranken ein Gebäude weiter verlegt.
Seit 5 Jahren wohne ich im Riedelstift, einer Einrichtung des Arbeiter- Samariter- Bundes, in einer ehemaligen Braunkohlen-Stadt, tief im Osten.
Ich habe in vielfacher Hinsicht Glück: nur Pflegestufe I, immer noch unternehmenslustig und (neben den Pflegern) der angesagteste Mann im Heim, umschwärmt von mehreren dutzenden Damen, die mehr oder minder charmant um meine Gunst werben.
Nun gut, ich sehe nicht aus wie ein in Ehren ergrauter Georg Clooney, aber bei 98% Frauenanteil in der “Anstalt” bin ich nun mal Platzhirsch .
Gut, ein Rivalen gibt es noch: Erwin Schabrauke, ein Jahr jünger als ich, griesgrämig und von Geiz zerfressen, mag den niemand.
Die ASB – Einrichtung ist nach Denkmalschutzvorlagen liebevoll renoviert, von den Räumlichkeiten und umgebenden Grünflächen sehr großzügig gestaltet und “Endstation” für die meisten von uns.
Hätte mir früher einer gesagt, die letzten Jahre verbringst du im Heim, wäre ein mitleidiges Lächeln die Antwort gewesen, wahrscheinlich sogar ein Piep an die Stirn.
Ich war Maschinenbauingenieur – wenn ich die Augen schließe, stehe ich wieder in unserer Werkhalle, Zeichnungen und Pläne in der Hand, umtost von Lärm, Rauch und Ölgeruch. Wir schweißten, hämmerten und feilten Zusatzteile für die mächtigen Turbinen der Braunkohlekraftwerke. Die kamen vom großen Bruder, waren aber nicht kompatibel mit unserer viel feineren und genaueren Technik.
Was haben wir gebastelt, getüftelt, ausprobiert, verworfen und trotz allen Mangels immer eine Lösung gefunden. Die so entstandende Zugehörigkeit zum Kollektiv habe ich später nie wieder erfahren; war nicht alles schlecht im
Arbeiter – Bauernstaat. Die “fleißige Hand” , ” der kluge Kopf ” wurden mehr geachtet als der feiste Bauch oder das Betrügerlächeln; Banker spielten überhaupt keine Rolle – unvorstellbar, dass die mit “Volksvermögen” spekulieren durften. Ein Versicherungsvertreter hätte sich nie getraut irgendeiner Familie faule Policen anzudrehen …
Conrad, einer der Pfleger, kommt: alles klar, Herr Matzig ? …. die meisten sind gut drauf hier, liegt an der umsichtigen Führung – wir werden sehr höflich behandelt, mit Namen angesprochen, fast alle Wünsche werden erfüllt … wir sind “Kunden” und nur in schwierigen Fällen “Patienten”.
Als diplomierter Ing. bin ich nicht dusslig, man weiß ja nie …einer meiner Tricks ist: dass ich mich schwerhörig stelle und oft an der Raucherecke vorbei schlendere. Zum Anfang senkten das Pflegepersonal und die Heimleiterin noch die Stimmen, aber als ich anscheinend nichts mitbekam, gehörte ich nach und nach zum Platz, wie die Birke, die da so traurig abhängt.
Das Zauberwort, was die Heimleiterin ihren Leuten einschärf , heißte “Validation”, bedeutet: sich in bestimmte Situationen einfühlen zu können… der /die Pflegerin muss bevor sie ein Zimmer betritt, bestimmte Grundfakten aus dem Leben des zu Betreuenden kennen …. Alter, Herkunft, Beruf, Kinder, Hobbys, Essgewohnheiten, religiöse Richtung ….etc.
“Ich hatte früher auch mal einen Pudel, Frau Mattig” …… “mein Großvater war deutscher Meister im Schwimmen, genau wie sie Herr Lindner …” “unglaublich, Frau Schiller, ist doch der Papst von seinem eigenen Kammerdiener beklaut worden ….”
Vielen wird eingeredet, sie wären zur Kur hier, in der Hoffnung, dass sie ihr Zuhause endgültig vergessen…
Es klingelt – Mittag: heute gibt’s gefüllte Paprikaschoten, das Essen schmeckt wirklich lecker …