…alle haben mich heute freundlich angelächelt, sagte überrascht unsere Reporterin Jana und schälte sich aus ihrer Lederjacke. Der Grund war bestimmt das Thema – internationaler Frauentag -, wahrscheinlich auch das herrliche Wetter, das gute Laune wie Schneeglöckchen sprießen ließ.
Doch manche Dinge ändern sich schnell:
Am späten Nachmittag hallte Geschrei durch unsere Straße – bestürzt aus dem Fenster schauend, sahen wir eine junge Frau, die im dritten Geschoss des hässlichen Plattenbaues gegenüber Anstalten machte, sich auf die Straße zu stürzen. Sie hatte sich auf die Fensterbank gesetzt, ließ die Beine baumeln; durch das Schlenkern fiel ein Schuh in die Tiefe.
Ab und zu heulte sie verzweifelt:unartikuliert, schmerzhaft.
Ich wusste von Erzählungen einer Nachbarin, dass sie psychisch krank und tablettenabhängig war; vermutet wurde ein zerrüttetes Elternhaus sowie Mißbrauch durch den Vater.
Ihr unbeholfener Versuch, ein ‘normales Leben’ zu führen: ehelich, mit Kind, scheiterte.
Mann und Schwiegereltern hatten das Handtuch geworfen, überließen Frau und Kind ihrem Schicksal.
In diesem Fall: Einlieferung in die ‘Geschlossene’, Trennung von der Tochter.
Nun war es soweit: eine gestresste Arztstimme hatte kurz telefonisch mitgeteilt, sie solle Sachen packen und sich bereithalten ….ein Krankenwagen wäre unterwegs, die Jugendhilfe informiert, würde eine Psychologin für das Kind schicken.
Das war der Auslöser für den Schock: dachte ich, als die Feuerwehr heranraste; ein Sprungtuch ausbreitete, die Drehleiter ausfuhr, mit der die Frau geborgen wurde.
Vorher hatten fürsorgliche Hausbewohner das Kind fort gebracht.
Hast du ein Glück, von so was verschont zu sein, ging es mir auf dem Weg zum Augenarzt durch den Kopf. Die siehst du nie wieder. Kaum drinnen – Antidepressiva, bis alles verdrängt, vergessen ist; arme Tochter – wächst der nächste Fall heran. Mühlrad. Kreislauf. Schicksal.
Kann man nichts machen. Kann man sich nicht einmischen.
Vorsorgeuntersuchung: die erste seit vielen Jahren – eine innere Stimme hatte mich dazu gedrängt.
.. Kinn aufstützen, Stirn fest anpressen und nicht blinkern ..
kurz darauf fuhr grelles Licht bis in die letzten Winkel meines Gehirns, es macht zweimal ‘Plopp’.
Erhöhter Augeninnendruck durch dünne Hornhaut, hörte ich die Ärztin diktieren. Es folgten für mich nicht deutbare Fachbegriffe, die aber rein vom Gefühl Unbehagen auslösten.
Noch immer stark geblendet, wartete ich auf den Befund der Untersuchung: sie haben ‘grünen Star’ oder ‘Glaukom’ .. medizinisch ausgedrückt, erklärte die Ärztin. Das bedeutet: der Sehnerv ist irreparabel geschädigt, wir können die Erkrankung nur aufhalten, aber keine Besserung herbeiführen … fuhr sie emotionslos fort.
Mit den Worten: sie müssen jetzt jeden Tag morgens und abends Tropfen nehmen, führte mich behutsam eine Schwester aus dem Zimmer.
Hab’ ich doch ein Glück: mir ging der Spruch vom Nachmittag durch den Kopf.
Jetzt hatte ich die Gewissheit: jeder Kreatur bleibt das eigene Schicksal verschlossen, niemand weiß, was ihm von Geburt an bevorsteht.
Draußen hing ein tiefblauer Himmel zwischen den Häuserzeilen. Es war wieder ruhig … in der Straße des verhinderten Fenstersturzes.
Nicht mal ein Pferd wieherte.
Hoffentlich habe ich in meinem Leben genug Bilder gespeichert, wenn das Dunkle kommt, dachte ich.
Ein vergessener Weihnachtsstern glühte aus einem der Fenster – wie wird es jetzt wohl der Frau aus dem dritten Stock ergehen?
Vielleicht geh’ ich sie mal besuchen ….