Zwei- bis dreimal im Jahr rückt bei mir der Gedanke in den Vordergrund des Bewusstseins, dass ich mich mal wieder daheim blicken lassen sollte. Daheim, das sind exakt 749km streng nach Westen. Am Dreiländereck Deutschland-Niederlande-Belgien, dort bin ich geboren und aufgewachsen, in einem Kurort, von dem keiner weiß, dass er einer ist: Aachen, eine Stadt mit 250.000 Einwohnern.
Dann sitze ich zuhause in meinem 2000-Seelen-Dorf bei meinen Eltern auf der Couch und sie haben Besuch – Bekannte von der Sorte, die vielsagend zwinkern „wir kennen dich schon, da hattest du noch eine Pampers an und bist auf dem Teppichboden gekrabbelt“. Das folgende Gespräch gleicht einem Verhör über die letzten zwanzig Jahre meines Lebens, ich antworte pflichtbewusst und freundlich, langweile mich aber innerlich zu Tode, aber dann wird’s plötzlich spannend: Na, wo studierst du denn? Wenn ich dann nach einer Kunstpause mit Nachdruck sage: Cottbus!, erlebe ich etwas ziemlich Einzigartiges. Die Blicke, die ich als Reaktionen erhalte, sind wahrlich oscarreif. Im Laufe der Jahre habe ich angefangen, sie in verschiedene Kategorien einzustufen: Da wäre zum Einen der entsetzte „Was-willst-du-denn-im-Osten?!“-Blick, bei dem mein Gegenüber fast einen Satz rückwärts macht, sprachlos vor Unverständnis. Oder der ausdruckslose „Aha“-Blick, auf den dann peinliches Schweigen und ein rascher Themenwechsel folgt. Oder der gespielt interessierte „Ist-ja-mal-was-anderes“-Blick, der zumindest versucht, das blanke Entsetzen zu verdecken (oder eklatante geografische Lücken – Cottbus liegt doch an der Nordsee, oder?). Auch gut ist der lässige „ich-hab-ja-auch-mal-ne-zeitlang-im-Osten-gewohnt“-Blick – natürlich von Leuten, die auch „mal ne zeitlang“ in New York, Paris, Amsterdam, München und Stuttgart gewohnt haben. Zählt es jetzt neuerdings schon als Auslandserfahrung, wenn man in Ostdeutschland gelebt hat?!
Die meisten Fragesteller haben aber eins geheimsam: Verständnislosigkeit. Darum dauert es meist nicht lange bis zu der Frage, die das am besten ausdrückt: Warum Cottbus? Worauf ich dann immer mit betonter Gleichgültigkeit antworte: Warum nicht?
Und das ist keineswegs witzig gemeint. Auch wenn ich es mittlerweile gewohnt bin, begreife ich immer noch nicht, warum ich mich „im Westen“ ständig für meinen Studienort rechtfertigen muss. Ich verteidige Cottbus ja gerne, aber es ärgert mich, dass das überhaupt nötig ist. Bochum oder Paderborn haben das nicht nötig, denn sie liegen ja im Westen. Hässlicher industrieller Ruhrgebiets“charme“ und langweilige Ostwestfalendörfer erhalten da problemlos einen Freifahrtschein. Denn das Schönste ist ja, dass die Reaktionen mit der meisten Abscheu und Verachtung von Leuten kommen, für die Münster und Trier die Grenzen ihres Universums sind und für die Bielefeld das Östlichste ist, was sie je gesehen haben. Zu sagen, Cottbus sei hässlich, wenn man noch nie hier gewesen ist, ist ungefähr so, wie zu behaupten, Rosenkohl ist eklig, das braucht man gar nicht erst zu probieren. Seit meiner Entscheidung im Sommer 2012, im schönen Osten der Republik zu studieren, ernte ich vor allem von ehemaligen Schulfreunden kopfschüttelnde Blicke – wohlgemerkt von Leuten, die nach der Wende geboren sind und für die – wie für mich auch – Deutschland schon immer so war, wie es heute ist: Nämlich eins. Komischerweise wissen diese Leute aber erstaunlich viel über die „Neuen Bundesländer“ und dass an jeder Ecke in Leipzig und Chemnitz ein Nazi steht, ist ja klar. Der Ost-West-Teilungsgeist lebt weiter, er ist wahrscheinlich nach dem Mauerfall als feiner grauer Schutt aufgestiegen und wabert jetzt über den Städten, Schulen und Köpfen Westdeutschlands. Über den Osten kann man Witze machen, über den Dialekt sowieso, aber dort zu studieren, dort zu leben, das kommt den wenigsten in den Sinn. Es scheint ein unausgeschriebenes Gesetz in meiner Heimat zu geben: Bleibst du zuhause in Aachen, bist du vernünftig, denn schließlich ist die RWTH Aachen (Rheinisch-Westfälisch Technische Hochschule) das selbserklärte unangefochtene Nonplusultra am Universitätshimmel. Gehst du nach Köln, Bonn oder Münster (Motto: Bloß nicht zu weit weg von Aachen), bist du Durchschnitt, aber erntest Respekt für deinen Mut – schließlich wolltest du mal eine „andere Ecke Deutschlands kennenlernen“ (wow, Köln, ein ganz anderer Kulturkreis, alle Achtung). Gehst du nach Maastricht, in die Niederlande, studierst du meistens irgendeinen vielsagenden Studiengang wie „European Studies“ und bist damit wahnsinnig international und angesagt. Gehst du in die Schweiz, hast du zuviel Geld. Gehst du nach Hamburg oder München, bist du richtig, aber so richtig „coool“. Gehst du nach Dresden, bist du schon ein Exot (ohje, der Osten), und musst vielleicht schon mit Verteidigungssalven rechnen. Gehst du aber nach Cottbus – ja, da musst du schon ne Schraube locker haben. Ich meine – Cottbus? COTTBUS?? Neeee. Vor allem, wenn du dich – wie ich – bewusst für Cottbus entschieden hast. Nicht nur einige Berliner mit schlechtem Abidurchschnitt, die hier notgedrungen gelandet sind, werden sich jetzt entgeistert fragen: Kann man sich bewusst für Cottbus entscheiden?! Ich sage: ja, man kann – happiness is a daily decision, and so is Cottbus.
Ich bin kein NC-Flüchtling. Mir standen alle Türen offen. Mein Studienfach hätte es auch an meiner Heimatuniversität, der RWTH Aachen (obendrein eine sehr renommierte Uni, blahblah) gegeben – aber mich zog es eben hierher. Um es noch deutlicher zu sagen: Ich wollte hierher. Gute Studienbedingungen, kleine Unis, moderne Ausstattung, zufriedene Studenten, günstige Lebenshaltungskosten – es gab viele Argumente für ein Studium in Ostdeutschland. Ich besuchte Magdeburg, Cottbus und Freiberg – und mein Bauchgefühl sagte mir ganz klar: Cottbus. Es hat mich bis heute nicht getäuscht, oder, was ich den entsetzten Blicken zuhause immer entgegne: Ich habe es bis heute nicht bereut. Warum auch?
Ich habe mich in die Stadt verliebt, in mein Studium, in die Leute hier, in die Möglichkeiten, die man hat. Das kannst du auch in Berlin haben, nur viel größer, werden da viele sagen. Dafür geht man doch nicht nach Cottbus, da fährt ja noch nichtmal ein ICE durch. Ist das nicht schon fast in Polen?
Was ich an Cottbus so schätze? Ich liebe die angenehme Größe der Stadt. Wer, wie ich, vom Land kommt, für den ist der Umzug in eine Stadt sowieso etwas Neues, Aufregendes. Trotzdem sind die Wege kurz, ich brauche fünf Minuten mit dem Fahrrad zur Uni, wohne in einem schicken sanierten Altbau in der Innenstadt, habe ein 27m2 großes Zimmer und zahle so wenig, dafür würde ich in München noch keine Besenkammer mieten können (in Aachen übrigens auch nicht). Meine Joggingrunden führen an der Spree entlang, es gibt unzählige Seen zum Baden und Grillen im Sommer, ganz zu schweigen von all den Parks; der bei mir nächste, der Schillerpark, bloß einen Steinwurf entfernt. Mein Studium macht mir Spaß; erst letztes Semester saß ich in einer Mathe-Übung, an der außer mir nur noch drei weitere Teilnehmer teilnahmen. So etwas an der RWTH? Unvorstellbar.
Das, womit mich Cottbus endgültig für sich gewonnen hat, ist allerdings etwas anderes und betrifft eher das außeruniversitäre Leben: Es gibt tausend Möglichkeiten, seine Freizeit sinnvoll zu verbringen. Ich bin kein Stubenhocker. Ich muss ständig aktiv sein, etwas tun, mich engagieren, arbeiten, Sport treiben. In Cottbus kann ich mich voll verausgaben, und dabei noch viel lernen und meine eigenen Ideen verwirklichen. Wenn ich meinen ungläubigen Freunden von Cottbus erzähle, dann nimmt meine Stimme meist einen sehr euphorischen Tonfall an und ich komme schnell ins Schwärmen. Am liebsten sage ich: Du kannst alles in Cottbus machen – und wenn es etwas noch nicht gibt, dann fang einfach selbst damit an, denn es gibt genügend Leute, die sich dir anschließen werden. Das trifft auf Sportkurse zu, auf Umweltgruppen, auf soziales Engagement – um ehrlich zu sein, ich bin immer wieder traurig, was ich alles nicht machen kann, da mein Tag auch nur 24 Stunden hat und ich Prioritäten setzen muss. Doch die zahlreichen Möglichkeiten wären nichts, wenn es nicht auch so viele engagierte Leute gäbe, die diese voll ausschöpfen. Ständig treffe ich neue Menschen, die sich für eine bestimmte Sache hier einsetzen, und das mit großer Leidenschaft. Anfang des Studiums habe ich einen Theaterkurs an der Bühne 8 gemacht – und bin sofort kleben geblieben, weil mich die kreativ-inspirierende Atmosphäre und der ansteckende Aktivismus dort einfach umgehauen haben. Momentan entsteht das Netzwerk Transition Town Cottbus – ein sehr spannender Prozess, und wieder ein Ort mehr, spannende Leute und Geschichten kennenzulernen und sich einzubringen.
Cottbus mag nicht Hamburg oder Berlin sein. Auch nicht Regensburg oder Potsdam. Es hat nicht die Möglichkeiten einer Hauptstadt, aber mal ganz ehrlich: Ich bin kein All-inclusive-Urlauber. Ich schnappe mir lieber einen guten Reiseführer und ziehe auf eigene Faust los. Und genau so ist Cottbus. Ein Ort zum Entdecken. Man muss offen sein, auf Leute zugehen, Neues ausprobieren. Hier wird einem nichts vorgekaut, meist muss man selbst mit anpacken, Verantwortung übernehmen, aktiv werden. Cottbus ist keine vorgebaute Kulisse, an der alles und jeder bereits seinen unverrückbaren Platz hat, Cottbus ist ein Ort, den man mitgestalten muss – und gerade deswegen macht das Studium in Cottbus so viel Spaß. Kein Malen nach Zahlen, sondern selber zeichnen.
Es gibt Studienstädte, die so klein sind, dass ihnen ihre Größe positiv angerechnet wird mit den Worten: Da schaffst du dein Studium in Regelstudienzeit, weil du dich voll aufs Studium konzentrieren kannst – nichts lenkt dich vom Lernen ab. Cottbus ist angeblich auch so eine Stadt. Heute kann ich darüber lachen. Mir wird es schwerfallen, mein Bachelor-Studium in Regelstudienzeit abzuschließen. Studiumstechnisch könnte ich das schon schaffen. Aber im Moment will ich das gar nicht. Es gibt noch so viel zu entdecken, so viel zu machen in Cottbus, dass ich der Stadt, die mir so viel gegeben und mich jetzt schon so sehr vereinnahmt hat, nicht nach drei Jahren schon wieder den Rücken kehren will. Mir gefällt es hier sehr gut. Ich fühle mich unendlich wohl, und natürlich kann man jetzt leicht sagen: Vielleicht hättest du dich in einer anderen Stadt genauso wohl gefühlt. Vielleicht. Aber jetzt bin ich nun mal in Cottbus. Und bleibe noch eine Weile.
Anna Oprei studiert im sechsten Semester Umweltingenieurwesen an der BTU Cottbus-Senftenberg.