In unserer heutigen, schnell dahin rasenden Zeit, gerät vieles in Vergessenheit.
Aber die Gefühle bleiben: die Großen, die Nichtigen, die Ängste, Sorgen aber auch das Hoffen.
Im Sprechzimmer sitzend, fand ich in einem mitgeführten kleinen, gelben Reclamheftchen, folgende Zeilen.
Der sie schrieb, Alfred Lichtenstein, wurde nur 25 Jahre. Er fiel 1914 bei Vermandovillers, nahe Reims.
“Lisel Liblichlein war aus der Provinz in die Stadt gekommen, weil sie Schauspielerin werden wollte. Zu Hause empand sie alles spießig, eng verblödend. Die Herren waren dumm. Der Himmel, das Küssen, die Freundinnen, die Sonntagnachmittage wurden unerträglich. Am liebsten weinte sie. Schauspielerin zu sein bedeutet ihr: klug sein,
frei sein, glückselig sein. Wie das ist, wußte sie nicht.
Ob sie Talent habe, prüfte sie nicht.
Sie schwärmte für den Vetter Schulz, weil er in der Stadt wohnte und Gedichte machte. Als der Vetter einmal schrieb, er habe die Juristerei satt, er werde als Schriftsteller seinen Neigungen leben, teilte sie den erschrockenen Eltern mit, das verbauerte Leben wachse ihr aus dem Halse heraus; sie werde als Schauspielerin ihren Idealen nachgehen.
Man versuchte auf jede Art, sie von diesem Vorhaben abzubringen.
Es gelang nicht.
Sie wurde bestimmter, drohend. Man gab unwillig nach, fuhr mit ihr in die Stadt, mietete ein kleines Zimmer in einem großen Pensionat und meldete sie in einer billigen Theaterschule an.
Der Vetter Schulz wurde gebeten, sich ihrer anzunehmen …”
“Der Nächste bitte,” mein Nachbar stösst mich an: “Hallo, Sie sind dran!”
Ich steck das Reclam-Heftchen in meine Umhängetasche, geh zum Arztzimmer.
Irgendwie habe ich das Gefühl, Lisel Liblichlein wird nicht glücklich in der Stadt.