Die Schaffnerin hebt den Arm, ein Pfiff, der Zug ruckt an, winkende Hände, Bahnsteig entschwindet.
Zurücklehnen, Augen schließen – bin urlaubsreif – gut, dass ich ein separates Abteil habe.
Die Freude währt nicht lange: ein junger Mann, blass, schwarzhaarig, ungefähr 30, drängt sich herein, bittet um einen freien Platz.
Ich nicke – draußen rauschen abgemähte Wiesen, Getreide, Klatschmohn, Kornblumen vorüber.
Hoch oben flattert eine Weihe, fällt plötzlich wie ein Stein, packt mit ihren Krallen eine vorwitzige Haselmaus; deren Herzschlag bricht geschockt, bevor der kräftige Schnabel den Kopf zertrümmert.
Der Mitfahrer stellt sich als Dr. Ronne vor: ein junger Arzt, der früher viel seziert hat und jetzt von Süddeutschland in den Norden fährt. Lächeln, natürlich kenne er Gottfried Benn .. ist schon kurios, wie sich Gleichgesinnte treffen.
Der Zug rattert, Räder sprühen Funken, Schwellen glänzen schwarzölig, eine Kupplung schleift über Schottergestein.
Ronne hält die Augen geschlossen, seine Lider zucken, die schmalen Hände versuchen etwas festzuhalten; er spricht im Schlaf: ich erfahre, dass er in einer geschlossenen Klinik den Chefarzt eine Weile vertreten hat.
” …in der Anstalt war es üblich, dass die aussichtslosen Fälle unter Verschleierung dieser Tatsache nach Hause entlassen wurden, wegen der Schreiberei und des Schmutzes, den der Tod mit sich bringt ..”
Das Fatale war, die so “Beglückten” wollten sich gebührlich von Ärzten und Schwestern verabschieden, hatten Tränen in den Augen ob eingebildeter, im Nachhinein leuchtenden, Wohltaten.
Händeschütteln: “das wird schon” und “Servus” rufen, statt “Auf Wiedersehen”. Wer käme schon gern hierher zurück, sogar ein Wehrwolf würde lieber im Gebirge sterben wollen.
Dr. Ronne und den anderen im “Abschiedskomitee” war es in solchen Momenten eng in Brust und Kehle, sie vermieden den offenen Blick, schüttelten unbeholfen zittrige Hände, grummelten abgedroschene Floskeln.
Natürlich ließ man nicht zu, dass Zeitungen mit Todesanzeigen die Klinik erreichten, die Namen wären ja bekannt gewesen.
Eintönige Welt drinnen, lockende Welt draußen.
Nach endlosen Visiten, Erstellen von Dienstplänen, Streit mit der Klinikverwaltung und dem Personal erkrankte Dr. Ronne selbst; die Nerven spielten nicht mehr mit.
Anfangs wurde er höflich und zuvorkommend behandelt, aber als ein neuer Chef eintraf, galt R. nur noch als gewöhnlicher Patient, bekam schwere Betäubungsmittel verabreicht die ihn ins Wachkoma taumeln ließen.
Zeit verlor sich …bis eines Tages die Klinikglocke klingelte: Entlassung, Dr. Ronne ….
Der Zug rattert über Schwellen, das Gras auf der Böschung ist verbrannt … mir ist unheimlich: ich verlasse das Abteil, steh auf dem Gang, schaue ins Freie …
Über den Feldern wolkenloser blauer Himmel, der Wind steht still.
Weit oben spähen scharfe Augen auf den Zug, der sich schnaufend durch’s Gelände schlängelt, die Weihe flattert unruhig – ihre Küken betteln nach frischem Fleisch.
Die Weihe sieht den Zug als Verbündeten, weiß: sobald dieser fortgerattert ist, trippeln Mäuse zum Bahndamm, angelockt durch Essenreste, die manchmal aus den Fenstern fliegen.
Saftig und fett sind die ahnungslosen Nager; lustig zappelnde Fellbündel, die von der Weihe oft noch lebend in den Horst geworfen werden; für die Jungen, zum üben.
Doch der Spätsommer bringt Unglück: ein Sturm rast über den Horst und fegt die Küken heraus, eines bleibt in den Ästen der Kiefer hängen, überlebt das Windgeheul; das andere fällt auf den nadelübersäten Boden, wird leichte Beute eines streunenden Dachshundes, der neu im Revier ist.
Zu dieser Zeit hatte ich mein Ziel längst erreicht.
Von Dr. Ronne ist folgendes überliefert : …” er lag auf dem Rücken, in einem langen Stuhl, der Stuhl stand in einem geraden Zimmer, das Zimmer stand im Haus und das Haus auf einem Hügel.
Außer ein paar Vögeln war er das höchste Tier.
So trug ihn die Erde leise durch den Äther und ohne Erschütterungen an allen Sternen vorbei …”