…ein hoher Raum, in der weißen Villa. Der Mann öffnet das Fenster. Feierabend – Zeit zum Träumen, der Tag schleicht sich langsam davon.
Dunkles fällt vom Himmel – der Block gegenüber ähnelt jetzt einem Panzerkreuzer, mit einer Kommandobrücke und schweren Geschützrohren. Lichter gehen an und aus, wie Mündungsfeuer. Komisch, dass nichts zu hören ist.
Stummfilm.
1917: LENIN ist unterwegs.
Fährt in einem versiegelten Waggon quer durch Deutschland. Unbehelligt. Im Kopf klar umrissene Pläne, Jetziges zu ändern. Über die Ticker der großen Zeitungen laufen bald zwei Worte:
“………………… an alle ! an alle ! an alle !”………………………………
in der Folge werden Millionen Kulaken ihres Eigentums beraubt, Millionen verhungern in Städten und Dörfern, aber Millionen werden erschlagen, auch die Herrscherfamilie trifft es.
Keine Überlebenden, vermeldet das Exekutionskommando aus Jekatarinenburg. In Russland gibt es fortan keine Zaren mehr.
2012 : Romanow
Büro in der weißen Villa, ehemaliges Polizeikrankenhaus:
…danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mich zu empfangen, die Besucherin blinzelt freundlich durch ihre Hornbrille und reicht mir die Hand: ich mach es auch ganz kurz, ich bin Lehrerin am hiesigen Gymnasium, betreue unsere Schülerpraktikanten – und möchte gern wissen, wie machen sich Bertold und Robert?
Wißbegierig schaut sie mich an.
Soll ich der forschen Pädagogin sagen, dass es mich nervt, wenn ständig ein Praktikant im Raum steht, krumm und weinerlich fragt: was kann ich tun? haben Sie noch eine Aufgabe für mich? – dass ich keine Lust hab’, Tagesberichte abzuzeichnen – und Pauker zu empfangen, die prinzipiell schon am zweiten Tag auf der Matte stehen, mit der dämlichen Frage: was denken Sie, eignet sich Klaus oder Bertha für diesen Beruf?
Schon die Nummer beweist, wie weit die von der Realität entfernt sind, im Bildungswesen..
Na ja, über die Hälfte der Truppe ist Dauergast beim Psychiater. Bei manchen Schulen haben sie schon Sozialarbeiter abgeschafft und dafür Seelenklempner eingestellt. Unser Nachbar ist Hausmeister in der Gesamtschule gegenüber, der muss eine Couch nach der anderen ranschleppen, für die Sprechstunden. Was denkste, was bei uns für Unterrichtsstunden ausfallen…. die Pauker sind nur noch mit sich selbst beschäftigt; am Brett hängt ne Liste, wer wann einen Termin beim Psychofritzen hat: angeblich ‘Posttraumatische Belastungsstörungen’, flüstert er mir hinter vorgehaltener Hand zu ………. es wird immer verrückter!
So, und ich Tölpel hab’ ich mich wieder in meiner Großzügigkeit breitschlagen lassen und mir zwei Konfirmanden aufgehalst, die “Einblicke in die Berufswelt” sammeln woll’n. Warum die sich nicht bei Mama und Papa im Betrieb umgucken? Klar, die Ollen wollen das nicht – ie Gören sind ja nicht doof, würden gleich mitkriegen, was die Alten da tagtäglich für ‘n Pfusch bauen – wenn die Helden überhaupt arbeiten gehn; ist ja auch nicht selbstverständlich.
Nu’ krieg dich wieder ein, ermahnt mich eine innere Stimme: jeder muss mal irgendwann anfangen, braucht ne’ Chance …
Wie machen sich Bertold und Robert, wiederholt sich die Betreuerin und erklärt mir gleichzeitig mit sanfter Stimme, dass die Schule an einem großen Projekt arbeitet …. einer “Präsentation” ….. ich staune und sage:
wir unterstützen gern solche Vorhaben, weil die wichtig sind für die Gesellschaft – ja, und die beiden Jungs legen ganz schön los, sind mit Eifer bei der Sache, die kann ich kaum bremsen; man merkt sofort, dass sie von einer besseren Bildungsstätte kommen.
Fräulein Horn errötet und macht sich eifrig Notizen, sie berichtet: vorhin war ich schon beim Dentallabor Griffel und beim Buchbinder Leimfest, dort absolvieren auch Schüler von uns ein Praktikum. Schau an, schau an – was es alles für Berufe gibt, nicke ich freundlich und ignoriere das Telefonklingeln : ist bestimmt die Liese von der Agentur “Vogelsang “, die drängelt, dass wir beim Wohltätigkeitsball zugegen sind. Ich bin unwahrscheinlich scharf auf den Eröffnungstanz, mit der feschen Schirmherrin; voriges Jahr war’s die vertrocknete Gerichtspräsidentin.
Lecker: Klamotten von der Kostümverleihauflösung Tetzlaff, Mottenkugelparfüm und die Frisur abgekupfert aus dem Film “the Artist” – und keiner traut sich was zu sagen…..
Was unterrichten Sie eigentlich für Fächer entschlüpft es mir? Kunst, sagt Hornbrille stolz und zupft apart ihren Schal zurecht.
Is’ ja bestimmt nicht einfach heutzutage, keiner von den jungen Leuten interessiert sich doch noch für Michelangelo, Dante, Nitsche oder Picasso. Klassik, Moderne ist denen doch völlig schnuppe. Facebook, Twitter, Chattroom … ersetzen Bibliotheken, Galerien, Theater oder Konzertsäle ….
Es gibt Ausnahmen, meint die Lehrerin, wir haben zum Beispiel seit kurzem einen Rußlanddeutschen an der Schule …. mit Familiennamen Romanow – sie blickt mich bedeutsam an.
Danke Ballon, denke ich und verbeuge mich tief vor unserem alten Geschichtslehrer, der uns immer wieder mit der Oktoberrevolution getriezt hat. Pawel Kortschagin: Wie der Stahl gehärtet wurde, ganze Passagen fallen mir noch ein:
“Pawljuk teilte mit den Schultern die Menge und schritt mitten durch die Tanzenden auf das Orchester zu. Er stellte sich vor die Bühne und ließ seine geflochtene Lederpeitsche knallen und schrie: einen feurigen Kassatschok, los!
Der Dirigent des Orchesters schenkte ihm keine Beachtung. Da holte Pawljuk heftig mit der Peitsche aus und ließ sie auf den Rücken des Dirigenten saußen, der jaulte auf ….die Musik brach jäh ab. Im Saal trat augenblicklich Stille ein.
Die Gastwirtstochter brauste auf: so eine Frechheit ………….. Pawljuk zog seine Mauser aus der Tasche hielt sie ihr zwischen die Augen und sagte gefährlich leise: “tscho, djewuschka ?………..”
Sie meinen: Von – den – Romanows? ich reiß die Augen auf, immer noch froh ,dass ich’s gleich geschnallt hatte.
Könnte sein: Kunsthorn sonnt sich in einer Art stillen Triumphes ….mir sind da ein paar ungewöhnliche Sachen aufgefallen, die darauf hindeuten, orakelt sie ….
Fortsetzung folgt ….