Am Sonntag regnet’s dicke Tropfen, wie es der Wetterbericht vorhergesagt hat. Schade, die Wanderung um den Mochowsee muss ich wohl auf morgen verschieben. Aber der See läuft ja nicht weg.
Eigentlich habe ich nun genügend Zeit mal richtig rumzukramen, mal sehen, was da ans Tageslicht kommt?
Ich weiß, auf dem Dachboden ruhen – verborgen in Kästen, Schachteln und Koffern viele Erinnerungen. Das Meiste aus dem Nachlass der Großeltern.
Im Laufe der Jahre kam auch von uns Ausrangiertes dazu. Ich steige die Treppe hoch, wie Willi Schwabe in der Rumpelkammer. Der Boden ist Niemandsland, mit sperrigen Übergängen zwischen heute und gestern. Staub flimmert über längst geschriebene Briefe, Ordner, Schulhefte, ausgeschnittene Zeitungsartikel, als ich einen Koffer öffne.
Abenteuerlust packt mich, ich bin Archäologe, an einem Ort voller Geheimnisse.
Neugierig vertiefe ich mich in einige Briefe. Groß und klobig die Schrift vom Großvater; klein, zierlich, mit ausschmückenden Bögen, die von Oma.
Ich staune: die beiden haben genauso geliebt, geweint, gelitten, sich gefreut – wie wir heute; nur, dass sie selten über ihre Gefühle sprachen. Das schickte sich nicht ; blieb Geheimnis, sorgsam bewahrte Intimsphäre.
Viele Briefe, die ich finde, sind vergilbt und zerknittert, als hätte sie der Empfänger immer und immer wieder gelesen. Das Zusammenleben der beiden war harmonisch, jedenfalls kann ich mich an keinen Streit entsinnen, wenn wir in den Ferien zu Besuch weilten.
Großvater, ein hagerer, hoch gewachsener Mann, mit ordentlich gezwirbeltem Schnurrbart, wie derzeit Mode, hatte es zum Beamten geschafft; obwohl er, wie er mir mal gestanden hatte, gern als Musiker durch die Lande gezogen wäre. Großmutter, ebenfalls würdevoll schlank, die Haare meist hochgesteckt zu einem Dutt, bediente in einem Kaufmannsladen; verehrt von vielen Männern der Umgebung. Ein schönes Paar, das sich bis zum Schluss treu blieb.
Die poetischen Zeilen rühren mich: wer kann heute noch so seine Gefühle ausdrücken? In einigen Jahrzehnten, denke ich, wird es keine handgeschriebenen Briefe mehr geben. Schon jetzt sind Standards üblich: kunstvoll drapierte, Individualität vortäuschende Sprüchlein, Weisheiten, Glückwünsche; in allen Schriftarten, Farben, mit Blümchen und Maskottchen. Hohler Spuk, der an Geburts -oder Feiertagen, mit dem Internet ins Haus flattert.
Viele merken gar nicht, wie wir trotz der vorgetäuschten Fülle immer ärmer werden.
Großvater schrieb zum Beispiel:
Meine Liebe,
die Arbeit ist getan: nun sitze ich am Küchentisch, die Uniformjacke ausgezogen und über den Stuhl gehängt, beide Ärmel hochgekrempelt. Die Feder kratzt über das Papier und ich versuche meine Gedanken niederzuschreiben. Du bist nicht da, fehlst, besonders an den Abenden.
Einen Trost habe ich: die Natur …. wie liebe ich die Bäume, Wind, Gräser, das kühle Murmeln eines Baches, die seidige Luft – alles verwebt sich zu einer großen Sehnsucht und verwirrt das Herz, doch noch größer, ist meine Liebe zu dir.
Jetzt im Gras liegen, träumen, von dir streicheln lassen; mein Gott, wie viele Eindrücke an uns vorrüberziehen. Der Tag vergeht in Purpur, bald steht Abendrot am Horizont. Abschiedsstimmung.
Dich gebe ich nicht mehr her. Ein heimlicher Wunsch wäre, mit dir im Stadttheater zu sitzen – ich im Frack, du in dem blauen, schulterfreien Kleid; auf der Bühne viele Streicher, Solo von Fagott und Klarinette, eine Tuba, die schwungvollen Gesten des Dirigenten. Himmlische Töne, dann Verbeugung, Klatschen, Bravorufe.
Wie durch einen Schleier sehe ich dein liebes Gesicht in der Menge: deinen leicht geöffneten Mund, die leuchtenden Augen, die erröteten Wangen, du winkst mir zu: Ist’s Traum oder Wirklichkeit? Liebste, lass uns fortgehen, bitte – und wenn’s geht, für immer!
Ich drehe den Briefbogen um: leer, nicht mal eine Unterschrift. Sonderbar …
” …also wollten sie fliehen”, denke ich – Irgend etwas muss dazwischen gekommen sein”.
Aber was?
Ich lausche. Es hat aufgehört zu regnen. Stille. Der See ruft. Bin unterwegs. Nachdenklich ….
“Immer kommt etwas dazwischen. Etwas, das wir nicht verstehen”.