Es ist kurz vor Mitternacht, wir rasen auf der Autobahn, den Kopf voll dröhnender Musik. Wir haben die Rockoper ‘Tommy’ erlebt.
900 Aufführungen am Broadway, nun Berlin. Was für eine gigantische Bühnenshow im Admiralspalast. Ein Trommelfeuer für die Sinne, trotz hysterischem Kreischgeheule, Ohnmachtsanfällen. Security und Sanitäter im Dauereinsatz.
1969 veröffentlichten ‘The Who’ das Konzeptalbum ‘Tommy’ dass sich 20 Millionen mal verkaufte, 1975 von Ken Russel verfilmt und Anfang der Neunziger von seinem Schöpfer Pete Townshend zur Oper umgeschrieben wurde.
Die erfundene Figur Tommy Walker sieht als Kind einen Mord und wird durch den Schock blind, taub und stumm. Später wird er auf wundervolle Weise ein Star und verklärt zum Heilsbringer, nachdem er in den Mond gesehen hat …
“Lieber habe ich alle Sinne beisammen und bin kein Star, denke ich und nehm’ den Fuß vom Gas. Nächste Abfahrt, Lübbenau. Kein Bock auf Cottbus. Am Bahnhof gibt’s hier ne Cocktailbar, sage ich zu A., wir nehmen ein paar Drinks und übernachten im ‘Goldenen Löwen’.
Sie nickt. Eine unserer Stärken ist die Spontanität. Auf unseren Kater ‘Moritz’ passen eh’ die Nachbarn auf. Wenn wir nicht Helga und Harti hätten, wären wir ganz schön eingeschränkt, im Tun und Handeln.
Am nächsten Morgen: ‘The Who’ werden langsam leiser im Kopf, wir schauen uns in Lübbenau um
…. der Ginster blüht gelb in Gärten, Kastanienzweige zeigen erste Knospen. Wintermäntel und nackte Waden in der Altstadt. Die Fährleute im Hafen langweilen sich.
Zu kalt, um auf’m Kahn zu sitzen. Kuscheln würde gehen, braucht man aber jemand. Gastronomen blinzeln lustlos in die Sonne.
Touris’ schleppen ihre Speckwänste zu den Ständen auf dem Markt vor der Kirche.
Der Töpfer erzählt, dass er noch vor kurzem in Italien war. Warum er nicht dageblieben ist, frage ich .. “Die Leute kennen mich hier; nein, er braucht keine Fotos ….hat schon genug.
Schwere Motorräder brummen heran: dunkle Helme, massige Körper, Maschinen wahrscheinlich rahmenverstärkt, hoher Spritverbrauch.
Räucheraal wird eingepackt. Eine stämmige Frau schiebt zerkleinerte Obstkisten ins Feuer, obwohl an ihrem Stand mit Schulkreide steht: “Naturgeräuchert mit Buche”.
Karl May wird 100 , behauptet ein Plakat. Zuckerwatte, teure Taschen neben bunten Tonschale und Krügen.
Preiswert, bissel zu plump für unseren Geschmack – was für Bauern, fällt bei denen nicht auf, sieht aus wie’s andere Geschirr.
Duftendes Heu. Kopftuch-Mädchen füttert ein Lämmchen.
Ein frisches Gesicht – würde ich mal gern ohne Haube sehen. Die zierliche Frau in Tracht, betupft in einer kleinen Holzhütte Eier, mit Kiel oder heißer Nadel.
Klare Augen, flinke Hände, professionelles Handwerk.
Der Springbrunnen plätschert.
A. Ist bei den Taschen.
Kirchenglocken läuten: früh Taufe, mittags Hochzeit , Sonnabends, Beerdigungen.
Ich hab noch einen Kostümverleih am Hafen, erzählt die Trachtenfrau … wenn sich früh auf den Fließen durch Nebel Silhouetten bilden, stelle ich mir vor, wie ich die einkleiden würde: Brokat, Tüll, Bänder, schwere Perücken, hochhackige Schuhe, einen ganzen Hofstaat, der auf dem Wasser tanzt, würde ich kreieren.
Sie lächelt. Die Hände bewegen sich selbstständig, verzieren in allen Farben die Eier.
Hoher Himmel, viel Blau.
Wir sind auf dem Markt in Lübbenau – kurz vor Ostern.